Schon mal von Adelheid oder Ruprecht gehört? Von Strix oder Ferdinand? Jungwinzer Stephan Herter gibt seinen Weinen ungewöhnliche Namen. Und sorgt dafür, dass sich zwischen seinen Reben am Taggenberg bei Winterthur auch Tiere wohl fühlen. – Ein Porträt.
Text: Paola Scaburri, Maria Di Domenica
Fotos: Paola Scaburri, Jonas Bühler
Die Wetterprognose hat einen regnerisch-kalten Tag angekündigt, womöglich gar mit Schnee. Die Realität am frühen Morgen: ein stahlblauer Himmel mit kaum einer Wolke, und eine Luft, die reiner und frischer kaum sein kann. Doch der April kennt keine Gnade: Wenige Stunden später tanzen Schneeflocken vom Himmel. Und dann, auf der Fahrt nach Hettlingen, einem kleinen Ort im hügeligen Umland von Winterthur, gaukeln Sonnenstrahlen wieder Frühling vor.
Stephan Herter winkt uns schon zu. Wir parken das Auto vor der grossen Scheune und werden herzlich empfangen. Stephan freut sich über unseren Besuch. Er trägt eine dunkelgrüne Arbeitshose, deren Beinenden er in die Socken gestopft hat, ein schwarzes Helly-Hansen-Fleece, leichte Trekkingschuhe. Eine dunkle Wollmütze ergänzt die Arbeitskluft. Unübersehbar sein dichter, brauner Bart.
Stephan lässt uns gleich in die alte Scheune eintreten, wo wir seinen Lehrling Francesco begrüssen. Francesco befasst sich gerade mit der Etikettierung von Weinflaschen, sowie mit deren Einschachtelung. Die alte Scheune wurde vor kurzem renoviert, dennoch (oder vielleicht gerade deswegen?) wirkt alles noch etwas provisorisch. Silberne Edelstahltanks stehen da, eine Flaschenabfüllanlage, dahinter mehrere grosse, hölzerne Weinfässer. Stephan erklärt, dass er nicht allzu grossen Wert auf die perfekte Einrichtung der Arbeitsscheune lege, denn: «Mein Wein entsteht auf dem Weinberg, hier wird er bloss abgefertigt. Wertvoll sind meine Reben, nicht dieser Arbeitsraum». Ein leichter Zug von Zynismus? Immerhin geht hier die Verwandlung von Trauben zu Wein vonstatten. Als wir uns wieder nach draussen begeben, vibriert Stephans Handy. Ein wichtiger Anruf. Es geht um die bevorstehenden Frostnächte und die Massnahmen, die er zu ergreifen gedenkt. Wir verstehen nicht im Detail, was er vorhat, doch ein Satz hakt sich fest: «Ich arbeite ja schliesslich mit der Natur und nicht gegen die Natur». Stephan beendet das Telefongespräch und widmet uns wieder seine Aufmerksamkeit. Er schlägt uns vor, gleich auf den Taggenberg zu gehen, wo sich auch die meisten seiner Reben befinden. «Dort oben fängt alles an, dort oben entsteht der Wein, deshalb würde ich gerne dort starten. Was denkt ihr?»
Am Taggenberg
HerterWein ist natürlicher Wein
Dass Stephans vorherige Aussage über das «Arbeiten mit der Natur» keine leere Floskel, sondern seine gelebte Philosophie ist, spüren wir an diesem Nachmittag viele Male. Sie schimmert in all seinem Tun durch. Wir gehen zwischen den Reben, wo erst kürzlich frischer Kompost ausgestreut worden ist. Stephan kniet nieder und nimmt eine grosse Handvoll davon auf. Er riecht daran, schaut uns an und sagt: «Das isch puuri Energie!». Die Kompostmischung bezieht er direkt von einem Bauern aus Winterthur, der die Grünabfälle mit Mist anreichert, bevor der Kompostierprozess seinen Lauf nimmt. Keine fünf Meter weiter stossen wir auf einen kleinen Rosenstrauch. Als wir nachfragen, erzählt uns Stephan, dass sich über sechzig Rosensorten auf seinem Weinberg befinden. Wenn eine Rebe stirbt, wird diese durch eine Rosenpflanze ersetzt statt mit einer neuen Rebe.
Stephan durchbricht damit die Monokultur der Weinreben; zwischen seinen Reben wachsen denn auch zahlreiche weitere Blumen, Kräuter und auch einige Obstbäume. Doch warum Rosen? Einer der Hintergründe dafür ist, dass sein Vater ein grosser Liebhaber von Rosen ist. Stephan lacht und erzählt, dass es jedoch schwierig sei, diese Rosen blühen zu sehen, da die jungen Rosenknospen eine Delikatesse für die wilden Rehe sind. Glücklicherweise essen die Rehe weder Trauben noch Weinblätter. Und die Vögel? «Ach, einzelne Vögel stören mich nicht. Sollen sie doch hin und wieder an einer Traube picken. Deswegen Netze zu spannen lohnt sich nicht – denn irgendein Schlupfloch finden sie trotzdem.» Problematisch seien hingegen die Staren-Schwärme auf der Durchreise im Herbst: Wenn die gesprenkelten Vögel zu Hunderten über die Trauben herfallen, richten sie sehr grosse Schäden an. Stephan rennt dann mit seinen Helfern mit «Chessi und Chellä» zwischen den Reben herum und schlägt gehörig Krach, um die gierigen Vögel zu vertreiben.
Frühlingsfrost – und wie Weine zu ihrem Namen kommen
Wir wandern weiter durch die Reben, bis wir ziemlich in der Mitte des Hanges stehen. Von diesem Aussichtspunkt können wir alle «Rebfelder» sehen – im Fachjargon Rebparzellen –, es sind einige mehr, als man von unten vermuten würde. In der Zwischenzeit sind wieder dunkle Wolken aufgezogen, kalter Wind hat eingesetzt, und nun purzelt Graupel nieder. Die weissen Körnchen, die Styroporkügelchen ähneln, setzen sich auf Stephans Mütze fest, fallen zwischen das grüne Gras und den blühenden Löwenzahn. Immer grösser werden die Körnchen.
Der Name Väterchen Frost fällt etwas aus der Reihe. Stephans Weine heissen sonst Rufus, Grimbart, Adelheid, Ferdinand, Ruprecht, Kuckuck oder Strix – allesamt Namen von mittelalterlichen Fabelwesen aus dem deutschsprachigen Raum. Stephan liest gern, er begegnete diesen Gestalten in Goethes Versen und fand sie passend für seine Weine, die auch alle ihren eigenen Charakter haben. Und den haben sie, weil Stephan ihnen diesen lässt. Er zieht seine Weine aus dem Terroir, diesem bestimmten Stück Land, lässt sie leben und Charakter entwickeln, je nach Jahr, je nach Wetter.
Vom Koch zum Winzer
Wir fragen Stephan, wieso er entschieden hat, sich dem Wein zu widmen. Er erzählt uns, dass er gelernter Koch ist. Aufgrund seiner guten Endprüfungsnoten konnte er eine Zeit lang auf «Tour de Suisse» gehen. In dieser Zeit hat er mit super Köchen zusammengearbeitet. Und wie es jedem bekannt ist, gehört zu einer exzellenten Mahlzeit ein exzellenter Wein. Stephan entwickelte eine grosse Faszination für alles, was mit Wein zusammenhing. Er las viel über Weine und begann, in der Weinindustrie zu arbeiten. Es mag eine Rolle gespielt haben, dass er in Nussbaumen aufgewachsen ist, umgeben von den Weinreben des Thurgauer und Zürcher Weinlands. Er arbeitete in verschiedenen Bereichen, am längsten war er als Weinhändler tätig. Dieser Job wiederum gab ihm die Möglichkeit, viele verschiedene Weinregionen zu besichtigen und auch die biologisch-dynamische Anbauweise von Reben kennenzulernen. Eine Zeitlang arbeitete er in Schottland als Blender in der Whiskeyproduktion, um die verschiedenen Whiskeysorten perfekt abzumischen. Dort konnte Stephan seine geschmackliche Sensorik unter Beweis stellen.
Irgendwann wurde ihm bewusst, dass es Zeit war, den eigenen Weg zu gehen. Er wollte zum Wein, er wollte eigene Reben, seine eigene Weinproduktion, seine Selbstständigkeit, und dies in seiner Heimat. Gerne hätte er im Wallis einen Weinberg bewirtschaftet, doch im Wallis als Nichtwalliser zu einem Weinberg zu kommen, sagt Stephan, sei fast unmöglich. Als er die Chance erhielt, einen Rebberg in der Nähe von Winterthur zu pachten, wo er sich schon länger zuhause fühlt, packte er sie.
Am Ödenhof
Es ist echt kalt geworden und vom Himmel fallen weiterhin zahlreiche Schneeflocken. Vor Stephans Auto bleiben wir wieder stehen. Uns fällt ein kleiner rot-schwarzer Traktor auf. Stephan erzählt uns, dass er ihn im 2016 gekauft hat. Das Traktörchen ist schmal genug, dass er damit zwischen den Rebenreihen durchkommt, und es erleichtert ihm die Arbeit massiv, zum Beispiel beim Verteilen des Komposts. An den ganz steilen Hängen kann er die kleine Hilfsmaschine allerdings nicht einsetzen.
Stephan will uns noch zwei weitere Rebparzellen zeigen. Wir fahren nicht lange und schon sind wir bei einem seiner weiteren «Felder». Stephan lacht und macht das Autofenster auf. «Seht ihr die Reben überhaupt? Francesco hatte anscheinend durch die viele Arbeit am Taggenberg keine Zeit zum Mähen.» Stephan hat diese Reben hier seinem Lehrling überlassen. Francesco ist jung, kommt aus Italien und hatte vorher noch nie auf einem Weinberg gearbeitet. Seit er bei Stephan ist, hat er sich in die Reben und die Weinherstellung verliebt. Stephan freut sich über Francescos Engagement und findet, dass er sich die freie Nutzung dieser Parzelle mehr als verdient hat.
Die Fahrt geht weiter durch verschiedene Rebberge, die jedoch nicht Stephan gehören. Schliesslich halten wir vor einem Bauernhaus auf einem kleinen Hügel, dem Ödenhof. Die Gegend ist aber alles andere als öde. Der Hang ist voller Reben und Stephan erzählt, dass der Bauer ihm dieses Feld zur Bewirtschaftung überlassen hat, da er selber nichts damit macht. Vor vier Jahren hat Stephan mit ein paar Kollegen in nur zwei Tagen mehrere Reihen Sauvignon-Blanc-Reben gepflanzt, sowie die Metall-Pfähle in den unerwartet harten Boden eingeschlagen, die Drähte gespannt und verankert. Diese Reblage ist klein aber fein, ein kleiner Diamant in der vollkommenen Natur, gegenüber liegt ein Wald.
Wir lassen uns von Stephan erklären, wie das eigentlich so funktioniert mit der Herstellung von Rot-, Rosé- und Weisswein. Eigentlich glaubten wir, dass man für Rotwein dunkle Trauben, für Weisswein helle Trauben und für Roséwein eine Mischung von dunklen und hellen Trauben verwendet. Falsch gedacht! Man kann auch aus blauen Trauben Weisswein herstellen. Der Farbstoff befindet sich in der Haut der Traube und nicht im Fruchtfleisch.
Wem begegnen Ferdinand und Strix als nächstes?
Wir fahren zurück zum Ausgangspunkt und betreten erneut die Scheune. Stephan bittet uns, schnell die Tür zu schliessen, denn für den gelagerten Wein ist es wichtig, dass die Raumtemperatur konstant ist. Hinten im Raum steht eine grosse Kiste voller Korken – für die HerterWeine werden ausschliesslich Recycling-Korken verwendet. Ein weiteres Detail, das aufzeigt, wie wichtig für Stephan das Thema Nachhaltigkeit ist. Es ist Zeit zu gehen, und irgendwie fällt es einem schwer, Stephans Reich der Reben schon verlassen zu müssen.
Aber im Moment ist er mit seinem Wein erst Mal recht erfolgreich. Stephan setzt auf regionalen Vertrieb und verkauft seine Weine über ausgewählte Gastronomen und Weinhändler in Winterthur, Zürich und Spreitenbach. Die Weine sind beliebt. Geniesser fragen nach dem roten Ruprecht, und der rosa Kuckuck ist ein angesagter Party-Wein. Doch mehrmals sagt Stephan: «Meine Weine braucht es nicht.» Was meint er damit? «Niemand würde meine Weine vermissen, wenn es sie nicht gäbe. So aussergewöhnlich sind sie nicht.» Wieder seine zynische Ader? Auf jeden Fall darf man gespannt sein, was Stephan sich als nächstes ausdenkt.
Reineke, Nobel oder Isegrim?
Stephan Herters Weine sind im Handel erhältlich; detaillierte Informationen gibt es auf www.herterwein.ch.
Liebe Leserin, lieber Leser, wenn du hier angekommen bist, hast du wahrlich Ausdauer gezeigt – danke! Das ist der längste Text, der bisher auf www.immer-wenn-es-regnet.ch erschienen ist.
Dieses Porträt ist im Rahmen meines Studiums «Angewandte Sprachen» an der ZHAW Winterthur im Fach Textproduktion bei M. Rebhandl entstanden. Das Porträt ist Teil einer Gruppenarbeit, für die wir zu viert (Jonas Bühler, Marco Luciano, Maria Di Domenica, Paola Scaburri) ein Dossier mit verschiedenen Textsorten zum Thema «Wein für Anfänger» geschrieben haben. Stephan Herter hat mich und meine Co-Autorin Maria im April 2017 herzlich empfangen und uns mit viel Begeisterung sein Weingut gezeigt. Es war ein eindrücklicher Nachmittag.
Danke, Steph, für die Zeit, die wir dir stehlen durften! Wir wünschen dir gutes Gelingen für das Meistern aller Herausforderungen und für alle anstehenden Projekte. Danke Jonas, Marco und Maria für die gemeinsamen Stunden; diese Gruppenarbeit hat viel Spass gemacht!