Es fühlt sich wunderbar an, zurück in Buenos Aires zu sein. Die Strassen und Plätze sind vertraut, die Cafés, Restaurants und Buslinien auch, und in der Bar an der Ecke arbeiten die gleichen Leute wie eh und je. Dennoch ist Buenos Aires diesmal anders. Kühler. Hektischer. Lauter. Auf eine Art, wie ich es noch nie erlebt habe.
Ich frage mich, ob es damit zu tun hat, dass ich schon zum vierten Mal hier bin. Bin ich bereits abgestumpft gegenüber dem Charme dieser Stadt und ihrer Bewohner? War ich zu lange in den menschenleeren Gefilden Patagoniens unterwegs? Bin ich dieses Mal einfach zu ausgeruht, so dass mich der laute Verkehr leichter als sonst aus dem Schlaf zu reissen vermag?
Ich spüre innert weniger Tage, dass die Stimmung in der Stadt wirklich anders ist. Die Porteños – so heissen die Bewohner von Buenos Aires – schlendern nicht mehr so leichtfüssig und sorglos wie früher durch die Strassen. Die Männer nehmen sich weniger Zeit, den Frauen nachzuschauen. Die Frauen wirken weniger anmutig und bezaubernd. Alle sind sie nicht mehr so aufmerksam für ihre Umgebung, vereinzelt sehen die Menschen sogar angespannt aus und bahnen sich zielstrebig ihren Weg. Fast schon fühlt es sich etwas europäisch gestresst an. Das gefällt mir gar nicht. Der Verkehr ist unruhiger, die Strassen sind verstopfter oder vielleicht die Autofahrer genervter. Hegte ich bis anhin eine tiefe Bewunderung für die ruhige, stets auf alle Seiten hin aufmerksame Fahrweise, die auf magische Weise alles in flüssiger Bewegung hielt, erlebe ich heuer, wie ungeduldig gehupt wird, sobald jemand nur einen Moment zögert. Tatsächlich sehe ich auch, wie ein Taxifahrer vor dem Rotlicht zu spät bremst und ins vordere Auto kracht. Ein Blechschaden, nicht weiter schlimm, aber das habe ich in vielen, vielen Wochen in Buenos Aires noch nie beobachtet.
Der Grund dafür? So ganz genau weiss ich es nicht. Aber mir wird schon gewahr, dass die wirtschaftliche Lage den Leuten sehr zu schaffen macht. Die Inflation war gross in den letzten Jahren, die Preise haben sich verdoppelt bis verdreifacht. Die Saläre hingegen haben sich kaum verändert. Die Menschen halten sich mit Zweit-Jobs über Wasser. Das zehrt an den Nerven und an der Lebensqualität. Fast täglich begegne ich einer Demonstration oder höre aus der Ferne die Lautsprecherstimmen einer Kundgebung – ich wohne nur wenige hundert Meter entfernt vom Palacio del Congreso, dem Nationalkongress.
Abends merke ich nichts mehr von all dem. Abends nimmt mich der Tango Argentino ein, beinahe jede Nacht verbringe ich tanzend an einer Milonga. In dieser Parallelwelt werden die finanziellen Sorgen scheint’s vor der Tür gelassen, jedenfalls amüsieren sich die Leute wie immer. Milonga – so heisst der Anlass, an dem der gesellschaftliche Tango getanzt wird. Dieser hat wenig mit den akrobatischen Tangoshows zu tun, zu denen die Stadtbesucher verführt werden. An eine Milonga geht jeder und jede, um mit Gleichgesinnten einem Tanz zu frönen, der von Herzen kommt. Dieser Paartanz fördert wie kaum ein anderer ein Gespür für den Tanzpartner, denn es gibt keine festgelegten Schrittfolgen. Jeder Schritt, jede Bewegung entsteht aus dem Moment heraus, aus dem zur Verfügung stehenden Platz, aus der Musik, aus dem Gefühl. Man muss sich aufeinander einlassen können, damit es funktioniert.
Zwischen zwei Tanzenden entsteht eine Spannung, die sehr fein und intim wirkt. Wer einmal erleben durfte, wie unglaublich leicht und harmonisch sich das anfühlt, mit jemandem gemeinsam zu atmen und übers Parkett zu schweben, der wird nicht müde, es zu suchen und wieder zu finden. Dafür gibt es allabendlich bis zu 30 Milongas in der Stadt. Einige sind sehr traditionell, und die Tanzenden ziehen sich elegant an; andere haben eine familiäre Atmosphäre, und so ist auch die Kleidung eher leger. Auf jeden Fall findet man immer eine Milonga, nach der einem der Sinn steht. An einigen Orten kann man auch essen, manchmal gibt es Live-Musik, manchmal eine kleine Show-Einlage von einem bekannten Tanzpaar. An vielen Milongas wird zur Auflockerung zwischendurch eine Runde Cumbia, Chacarera oder Rock’n’Roll gespielt. In solchen Momenten bricht jeweils eine gewisse Aufregung aus, weil die, die gerade die Tanzfläche verlassen wollen, doch wieder zurückdrängen. Ich finde es stets von neuem faszinierend, mit welcher Freude auch diese Tänze praktiziert werden. Die Heiterkeit ist äusserst ansteckend, insbesondere wenn zwei 70-Jährige sich wieder jung fühlen und plötzlich Rock’n’Roll Moves aufs Parkett legen, die man ihnen nie zugetraut hätte. Und ich freue mich, dass die Porteños ihre Lebensfreude, ihre Spontaneität und ihr Temperament trotz schwieriger wirtschaftlicher Zeiten doch nicht ganz eingebüsst haben.
Rafael Cruz
Juli 1, 2014
Zweifellos macht uns die Globalisierung immer gleicher. Schleift an den Ecken und Kanten, welche zur Einzigartigkeit beitragen. Schön, dass es noch Bastionen wie die Milonga gibt. Dank ihnen wird Wertvolles geschützt und für weitere Generationen bewahrt. Mögen möglichst viele daran denken, wenn sie künftig ihre Entscheide treffen…
Di Maria Ariana
Juli 23, 2014
Liebe Paola
Wie immer schreibst Du so, dass ich mitten im Geschehen bin. Obwohl ich nicht Tanzen kann – hier bin ich dabei, nehme das argentinische Temperament wahr – obwohl ich noch nie dort war, spüre die Spannung und Intimität die es braucht, um miteinander beim Tanzen zu Verschmelzen – obwohl ich diese Art der Bewegung nicht kenne. Danke Paola, dass Du mit Deiner Art zu Schreiben, meine Gefühle berührst. Es ist eine Freude, Deine Texte zu lesen.
Angela
Juli 2, 2014
schöner Beitrag, liebe Paola. Beschreibt die Situation und die Stimmung sehr gut, finde ich.
liselotte
Juli 4, 2014
ist echt ein schöner text geworden, paola!
kommt dir direkt aus dem herzen – danke für die gelegenheit, für ein paar minuten in eine ganz andere welt als die der unerledigten mails und des schweizerischen alltagsstresses abzutauchen – gerne mehr 😉