«Two roads diverged in a wood, and I –
I took the one less traveled by,
And that has made all the difference.»

Aus: THE ROAD NOT TAKEN (1915), Robert Frost –


In den Ferien lernen wir diesen Menschen kennen, der ist fast 20 Jahre lang erfolgreicher Informatiker in Frankreichs Metropole Paris. Doch dann will er etwas Neues machen.

Doch dann will er etwas Neues machen.

Sich in ein neues Abenteuer begeben, weg aus der städtischen Hektik, aufs Land, zurück zum direkten Kontakt mit den Menschen. Er findet eine alte, seit zwei Jahren leerstehende Herberge in einem winzigen Dorf mitten im Juhee in der Normandie. Er übernimmt die Herberge, renoviert sie und richtet sie mit viel Geschmack neu ein. Er absolviert Kurse an einer renommierten Gastronomieschule in Paris und engagiert einen Koch. Seit Januar 2016 ist die Auberge eröffnet.

Seit Januar 2016 ist die Auberge eröffnet.

Wir haben die Auberge zufällig auf dem Internet entdeckt und für zwei Nächte gebucht, weil uns die Bilder gefielen. Dass wir ein solches Bijou vorfinden, und der Gastgeber Carlos erst recht eine Perle ist, das konnten wir nicht ahnen. Bei Ankunft werden wir mit feinem Humor begrüsst und zu Weisswein und Oliven verführt (eigentlich hat uns Carlos da schon ziemlich im Sack ;-)) im Abendsonnenschein mit Blick auf die hübsche, normannische Kirche. Sie ist das Herz des Dorfes, nein, mehr als das: die Strassen der ganzen Umgebung führen zu dieser Kirche. Carlos erzählt, dass man sich beim Betreten der Kirche etwas wünschen soll – es gehe dann in Erfüllung. Allerdings nur beim wirklich allerersten Eintreten. Deshalb, nicht unwissentlich reintrampeln, man kriegt keine zweite Chance!

Bei Ankunft werden wir mit feinem Humor begrüsst und zu Weisswein und Oliven verführt

Unser Zimmer ist einfach und gemütlich. Auch sonst fehlt es nicht an Raum zum Verweilen: das Restaurant, ein grosser, wunderbarer Saal, bildet den Mittelpunkt des Hauses, darüber ein Mezzanin mit verschiedenen Tischen, Stühlen und Sesseln; und zwei Terrassen, eine vor und eine hinter dem Haus. Im einladend gestalteten Hauseingang befinden sich Réception und Bar. Der Stil ist hell und modern und verbindet sich wunderbar mit den antiken Elementen des Hauses: das schöne Mauerwerk, der offene Kamin, in dem im Winter bestimmt ein Holzfeuer prasselt, das geschwungene Treppengeländer und das jahrhundertealte Piano.

Der Koch trudelt ein und trifft in der Küche seine Vorbereitungen. Die Menükarte ist übersichtlich, doch die Wahl fällt uns schwer, alles klingt vielversprechend. Es ist einerlei – was wir in diesen Tagen auch bestellen, es ist immer fabelhaft und aus regionalen Produkten mit viel Liebe zubereitet.

Dazwischen kommt alle Stunde mal ein Auto vorbei und kläfft kurz irgendwo ein Hund.

Die Ruhe im Dorf ist grandios und wird nur dreimal am Tag vom Läuten der Kirchglocken unterbrochen: morgens um sieben, mittags um zwölf und abends um neunzehn Uhr. Dazwischen kommt alle Stunde mal ein Auto vorbei und kläfft kurz irgendwo ein Hund. Ansonsten rauscht der Wind in den Pappeln, gurren die Tauben, schwirren ein paar Schwalben. Wir bleiben drei weitere Nächte und erkunden die Normandie von Cametours aus. Wir bauen ein fast schon freundschaftliches Verhältnis zu Carlos auf und werden unter anderem – gerne übrigens – als Versuchskaninchen für Amuse-Bouche-Kreationen eingesetzt  (-:

Carlos probiert aus, lernt und verbessert mit entwaffnender Offenheit, auf eine wunderbar natürliche, unangestrengte Art. Er spürt den Menschen und gibt jedem Gast instinktiv, was er sucht: Hilfsbereitschaft, Charme, Ergebenheit, humorvolle Nähe, professionelle Kompetenz. Sein Weinsortiment ist mit Bedacht ausgewählt, die Gerichte entwirft er gemeinsam mit dem Koch, und jede sich ergebende Kombination wird zu einem kleinen Kunstwerk. Was er tut, ist zum Wohl des Gastes. Er tut es freudvoll und stolz, auf eine ganz bescheidene Art, und voller Überzeugung.

Er tut es freudvoll und stolz, auf eine ganz bescheidene Art, und voller Überzeugung.

Beim Reisen trifft man oft auf Aussteiger, die an einer paradiesischen Beach hängenbleiben und ein Café oder eine Lodge eröffnen (warum auch nicht). Carlos wirkt nicht wie ein Aussteiger. Im Gegenteil. Er ist ein Einsteiger. Nicht das süsse Nichtstun lockt ihn, sondern die neue Herausforderung. Er geht einer Passion nach, man merkt ihm in jeder Sekunde an, dass seine neue Rolle als Gastgeber eben keine Rolle, sondern seine Berufung ist. Ich habe Mühe, ihn mir als Informatiker vorzustellen. Sein Lebenswandel erscheint mir daher nur natürlich – nichtsdestotrotz bin ich beeindruckt.

Dass Carlos von Beginn weg alles auf eine Karte setzt und seiner Leidenschaft so hundertprozentig nachgeht, finde ich bemerkenswert. Es bedeutet, die finanziellen Sicherheiten aufzugeben. Es bedeutet auch, seine Frau und seine zwei Kinder zum Teil wochenlang nicht zu sehen, denn sie wohnen weiterhin in Orléans, wo die Kinder die Schule besuchen. Man muss etwas schon sehr wollen, um solche Abstriche auf sich zu nehmen. Beziehungsweise muss man jemanden sehr gern haben, um ihm seinen Traum zu ermöglichen. Das ist grad nochmals bemerkenswert!

Wie oft habe ich meine Neugier verflucht, die mich den Trampelpfad hat wählen lassen.

Carlos hat nicht den Pfad gewählt, der ihn einfach und sicher ans Ziel bringt. Er hat den anderen Pfad genommen, den wenig begangenen, bei dem man nie ganz sicher ist, wohin er führt. Ich kenne solche Pfade. Sie sind heimtückisch und voller Überraschungen. Wie oft habe ich meine Neugier verflucht, die mich den Trampelpfad hat wählen lassen. Furchtbar anstrengend manchmal, das Vorwärtskommen… der Weg endet unvermittelt, man muss sich seinen Weg selber suchen – ich sollte es doch besser wissen, grummel…! Doch dann wiederum fühle ich mich so ungemein bereichert, wenn mir unerwartet Schönes begegnet und sich neue, weite Perspektiven auftun.

Darum beginne ich nun ein Vollzeitstudium.

Und Carlos lernt Piano spielen.


Wer Lust bekommen hat, die Auberge des Tisserands in Cametours zu besuchen, sei es zum Übernachten oder zum Essen, findet alle Infos hier.
Obwohl abgelegen, ist die Lage der Auberge sehr gut, denn in höchstens eineinhalb Stunden Autofahrt sind alle Sehenswürdigkeiten der Basse-Normandie zu erreichen: der berühmte Mont-Saint-Michel, die verschiedenen Küstenabschnitte und Strände, sämtliche Museen und Friedhöfe im Gedenken an die Gefallenen im zweiten Weltkrieg bei der Landung der Alliierten im Juni 1944 – und unzählige Schlösser, Burgen und malerische Städtchen mit ihren lebhaften Märkten.


Fotos: Paola Scaburri, auberge-des-tisserands.fr, airbnb.ch

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Salamanca
Von Windbeuteln und Aschenbechern

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